Nicht lange bis zum großen Branchentreffen in Südafrika. Keine Ahnung, was 2010 passieren wird. Vielleicht trifft Toni Kroos im WM-Finale, vielleicht auch nicht. Vielleicht wird Australien Weltmeister und die DFB-Elf fährt nach der Vorrunde nach Hause, vielleicht auch nicht. Und vielleicht trifft Andres Iniesta im Halbfinale eine Minute vor Schluss in den Winkel, so wie er es schon 2009 getan hat, vielleicht auch nicht. Zeit für Tatsachen – die wichtigsten Fußball-Momente 2009.
Platz 5
Eine Kulisse von 35.000 Zuschauer sorgt zuweilen bei vielen Bundesligisten und selbst bei einigen Zweitligisten für lange Gesichter, bedeutet es doch, dass der Schatzmeister nicht mit Zusatzeinnahmen rechnen kann. In Neuseeland ist eine solche Zuschauerzahl schlicht Landes-Rekordkulisse. Denn 35.000 Zuschauer zählten die Kiwis in Wellington beim entscheidenden Qualifikationsspiel zur WM in Südafrika. Eigentlich war es unglaublich, dass Neuseeland überhaupt so weit gekommen war, nachdem man während der Qualifikationsphase sogar gegen die Fischi-Inseln verloren hatte. Aber das zählte nun nicht mehr, denn an diesem 14. November gab es schlicht ein Finale. Zu Gast waren die Kicker aus dem Bahrain. Nach dem 0:0 im Hinspiel ging es um nicht mehr und nicht weniger als um die pure WM-Teilnahme – für beide Länder ungefähr so viel wert wie für alle europäischen Länder der Titel selbst. Und die Neuseeländer taumelten am Rande des Wahnsinns als der englische Zweitliga-Spieler Rory Fallon in der 45. Minute zur Führung traf. Jetzt für den Rest des Spieles ohne Gegentreffer bleiben und dann ab nach Südafrika. Doch schon sechs Minuten später schien alles schon wieder zu Ende, noch bevor es begonnen hatte. Denn es gab Elfmeter für den Bahrain. Deren Star Sayed Mohamed trat an, sein Land zum ersten Mal in der Geschichte des Wüstenstaates zu einer Weltmeisterschaft zu schießen. In solchen Fällen blüht dem historischen Torschützen in seinem Heimatland grenzenlose Ekstase und ein Rest-Leben in Saus und Braus. Kurz: Sayed Mohamed musste nur gegen den neuseeländischen Keeper Mark Paston treffen und dann nie wieder arbeiten. So lief er zum Schuss seines Lebens an, während 35.000 Neuseeländer den Atem anhielten. Mohamed schoss in die von ihm aus gesehene linke Ecke – und in genau die tauchte Mark Paston – im normalen Leben der Torwart von Wellington Phoenix – ab und hielt den Ball fest. Was folgte, war pure Ekstase und ein Jubelschrei, der sicher bis ins benachbarte Australien reichte. In den folgenden 40 Minuten hechtete und faustete Fallon, als wäre er nicht von dieser Welt und sicherte seinem Team die erste WM-Teilnahme seit 1982. Unbestätigten Berichten zufolge, nennen zahlreiche seiner Landsleute fortan ihren Erstgeborenen Rory. Was mit Sayed Mohamed geschah? Wahrscheinlich spielt er immer noch Fußball, wenn auch selten vor 35.000 Zuschauern.
Platz 4
In Aachen ließen sich einige Strategen im August des vergangenen Jahres, genau wie an so vielen anderen deutschen Fußballstandorten zuvor und danach, dafür feiern, dass wunderschöne Spielorte mit knirschenden Holztribünen und rostigen Wellenbrechern abgerissen werden, dass Stehplatzränge aus Beton, aus denen nutzlose Grünpflanzen wuchern und in denen Schlachtgesänge aus unendlich vielen Schlachten stecken, einfach so erledigt werden. Das Totschlagargument: konkurrenzfähig bleiben.
32.000 Menschen waren gekommen, um dabei zu sein, als das neue Stadion eingeweiht wurde. Und sie erlebten einen rabenschwarzen Tag. Einmal ganz abgesehen davon, dass ein Fan der gegnerischen Mannschaft auf tragische Weise sechs Meter in die Tiefe stürzte, lange um sein Leben rang und glücklicherweise Wochen später aus dem Koma erwachte. Ganz abgesehen davon, dass die elf Aachener, in dem Stadion, das nur den Namen Tivoli trägt, so dermaßen den Arsch versohlt bekamen, dass man versucht war, die neu montierten Plastiksitze gleich wieder aus dem Gemäuer zu reißen. Das Schlimmste war dieses völlig beliebige und Millionen Euro teure Stadion, dass einen mit seiner Wucht schon erschlug, noch bevor man überhaupt rein gegangen war. Das neue Stadion raubt bis heute vielen in Aachen die Identität. Fangruppe sitzen nebeneinander ohne zueinander zu passen, das weite Rund ist meist halb leer und die Aachener Mannschaft findet keine rechte Beziehung zu ihrer neuen Heimstätte. Seitdem taumelt die Alemannia durch die zweite Liga und viele der Fans tragen eine große Portion Wut mit in das neue Stadion, ohne zu wissen, wo das eigentlich her kommt. Nicht zufällig wurde in diesen Tagen Erik Meijer als Sportdirektor präsentiert mit der Maßgabe, dem Verein ein bisschen seiner Identität zurückzugeben.
Aachen ist nur ein Beispiel unter vielen. Neue Stadien braucht das Land heißt es in Augsburg, St. Pauli oder Dresden. Manchmal zurecht, manchmal nicht. Doch was fast immer auf der Strecke bleibt, ist das Gefühl an einem Ort zu sein, der vertraut und vor allem einzigartig ist. Denn bei genauem Hinsehen, könnte der Tivoli auch in Dresden stehen oder in Augsburg oder in St. Pauli. Apropos St. Pauli: Der FC St. Pauli war zu Gast beim ersten Spiel am neuen Tivoli und schickte die zweite Auswärtsmannschaft mit fünf Gegentreffern nach Hause.
Platz 3
Seine Kollegen hatten ihm gesagt, dass es eines Tages passieren würde. „Berufsrisiko,“ hatten sie gesagt. Irgendwann würde es auch ihn treffen. Er hatte es nicht geglaubt, hatte gehofft, dass ihm das erspart bleiben würde. Und nun war es doch passiert. Mit einer Decke über den Schultern saß er in der Einsatzleitung, eine Tasse Tee vor sich – untröstlich. Was sollte er seinen Kindern sagen, wenn er nach Hause kommen würde? Dass es keine Absicht war? Dass er nicht mehr bremsen konnte? Verschweigen konnte er es nicht. Sie würden es wahrscheinlich eh schon gehört haben. Er verfluchte seinen Job. Es war dunkel gewesen und er hatte ihn nur schemenhaft gesehen aus seiner Fahrerkabine. Da war es schon zu spät und es war geschehen. Und irgendwie – auch wenn ihm jetzt alle in der Einsatzzentrale sagten, dass es nicht so sei – fühlte er sich schuldig. Der Lokführer schaute das Radio an, dass vor ihm stand, wie mechanisch schaltete er es ein. Sie erzählten von einem Unfall – von dem Unfall, an dem er beteiligt gewesen war. Kurz darauf sprach das ganze Land darüber. Eine traurige Geschichte, die erst begann.
Platz 2
Eigentlich hätte der arme Andreas Ottl das so provozierend langsam über die Linie trudelnden Leder noch abwehren müssen. Und er versuchte es auch – mit einem langen Bein, dass er in Zeitlupe Richtung Ball bewegte. Ottl machte einen großen Spreizschritt, um die FC Bayern-Demütigung schlechthin in der vergangenen Saison noch zu verhindern. Was war geschehen? Der Brasilianer Grafite hatte in einem beispiellosen Solo über die Hälfte des Platzes sämtliche Bayern-Spieler abgeschüttelt wie lästige Schmeißfliegen – am Ende auch den damaligen Torhüter des Rekordmeisters, Michael Rensing. Woraufhin Andi Ottl, der vorher auch unter dem Grafit´schen Kreisel gelitten hatte, auf die Linie eilte, um den zu erwartenden Schuss des Brasilianers doch noch irgendwie abzuwehren. Doch Grafite dachte gar nicht an so etwas weltliches wie einen Schuss. Er legte den Ball mit der Hacke in Richtung der von ihm aus gesehenen linken Ecke. Das Leder trudelte sieben bis acht Meter auf das Bayern-Tor zu. Ottl hatte in den 30 Sekunden davor seinen Kompass komplett verloren und wusste deshalb immer noch nicht so recht, was hier gerade direkt vor seinen Augen passierte. Der arme Ottl musste beinahe tatenlos mit ansehen, wie der Ball behäbig ins Netz kullerte. Was für ein Tor! Was für ein Moment! Kurz danach kniete Grafite vor der völlig wild gewordenen Menge, ließ sich feiern – während Andi Ottl sich phlegmatisch auf sein rechtes Bein stützte, um langsam aufzustehen – immer noch leicht bis mittelschwer benommen.
Platz 1
Das einzige Spiel, in dem der 2009 so phantastische FC Barcelona in der vergangenen Saison völlig neben sich stand, war eines der wichtigsten des ganzen Jahres: das Champions League Halbfinale an der Stamford Bridge in London. Chelsea London hatte das Spiel über 90 Minuten bestimmt und war klar die bessere Mannschaft gewesen. Ein Tor von Michael Essien schien zu reichen für die Blues und auch die völlig verrückten Fehlentscheidungen des dänischen Schiedsrichters würden dem Finaleinzug wohl nicht mehr im Wege zu stehen. Klare Sache – jedenfalls bis zur allerletzten Spielminute – als einer der besten Fußballspieler der Welt Lionel Messi, den Ball zu einem der besten Fußballspieler der Welt passte: Andres Iniesta. Es ist der Unterschied zwischen weltklasse und einzigartig, wenn ein Spieler vor einer bestimmten Szene 90 Minuten kein Bein auf die Erde bekommt und dann in einem einzigen kurzen Moment doch ein Spiel entscheidet. Iniesta legte den Beweis seiner Brillanz ab. Er schoss den Ball genau in den rechten Winkel – unhaltbar für Chelseas Torwart Cech. Sein Trikot wie eine Windmühle schleudernd lief der fabelhafte Iniesta über den Platz – kein Blick für die zu Salzsäulen erstarrten Chelsea-Fans und Spieler. Iniesta hatte genau getroffen, exakt in den Winkel – nach einem Spiel von dem man ohne dieses Tor gesagt hätte, dass er nicht mal einen Möbelwagen getroffen hätte. So fragte ein paar Wochen später niemand mehr danach, wann Barca in dieser Saison eigentlich mal richtig schlecht war – als Iniesta, Messi und Co gegen Manchester United völlig verdient und mit rauschenden Ballstaffetten den Europapokal gewannen. Grandioser, großer Andres Iniesta!
Dieser Artikel ist auch hier erschienen: www.footage-magazin.de